Amèlie (2001) – nicht ganz so fabelhaft wie der deutsche Titel vermuten lässt
„Amèlie“ wirkt, als hätte Wes Anderson in seiner Jugendzeit eine quirky Version von „The Double Life of Veronique“ gedreht. Dem Film fehlt nämlich in all seiner Schrulligkeit die naturalistische Balance, die Anderson in seinen großen Werken schafft zu etablieren. Seine Welten und Figuren können noch so abgedreht und besonders sein, aber er nimmt sie immer ernst – und das Gefühl habe ich bei „Amèlie“ nur selten.
Mir ist diese Erzählweise einfach zu überzogen, zu hektisch und überhetzt zugleich, vor allem dafür, dass der Film versucht Einblick in die (Gedanken-)Welt einer introvertierten, jungen Frau zu gewährleisten. Ich bin selber ein introvertierter Mensch, in meiner Welt verziehen Menschen aber nicht bei jeder Geste ihr Gesicht, als hätten sie gerade zwei Kilo Brausepulver geschluckt. Ironischerweise fand ich die überhetzte Erzählweise auf Dauer genauso anstrengend wie ich den Kontakt mit zu extrovertierten Menschen finde. Nicht ein einziges Mal lässt Jeunet die Welt wirklich atmen, nicht ein einziges Mal lässt er das Setting auf den Zuschauer einwirken. Stattdessen wedelt er mit dem nächsten skurrilen Charakter oder dem nächsten lustigen Setting herum.
Die Nebencharaktere sind in ihrem Schauspiel, sowie in ihrer eindimensionalen Zeichnung, zu überzogen und so wirkt es für mich nicht so, als würde Jeunet diese abseits der Gags überhaupt ernst nehmen. Ich verstehe, dass der Film aus Amèlies Sicht erzählt ist und man die Welt durch ihre Augen sieht, wie gesagt gehört es für mich aber nicht zu den Charakteristika des Introvertiertseins dazu, dass die Welt derartig drüber wahrgenommen werden muss. Anfangs mag dieser schrullige Stil durch seine Besonderheit bestechen, dadurch dass „Amèlie“ aber eben nie von dieser einseitigen Erzählweise in geerdetere oder emotionalere Hemisphären überschwingt, wird dieser Stil schnell monoton. Dieselbe Musik dominiert die immer gleich aufgebauten Szenen und das wurde mir schnell zu langweilig.
Visuell kann der Film dafür in Gänze überzeugen, schafft gelbliche Bilder, die das sonst eher triste Stadtleben zu einem märchenhaften Setting formen.
Auch Audrey Tautou in der Hauptrolle rettet vieles, sie ist noch die Einzige, die ihre Rolle mit glaubwürdigen Facetten und geerdeten Eigenschaften (im Kontext des skurrilen Settings) ausfüllt.
„Amèlie“ ist definitiv ein gut gemachter Film, der aber um ein Vielfaches von anderen Werken überschattet wird. Wenn man ein Porträt eines introvertierten Lebens in wunderschönen Gelbtönen (und noch so viel mehr) sehen will, sollte man sich stattdessen Krzysztof Kieślowskis Meisterwerk „The Double Life of Veronique“ ansehen und wenn man lieber einen schrulligen Feel-Good Film sehen will, würde ich eher jeden Film von Wes Anderson empfehlen. Gut, wenn man beides kombiniert haben will, dann ist vielleicht „Amèlie“ doch der richtige Film – aber auch nur dann.
Punkte: 6/10