Providence (1977) – Ein Einblick in den Verstand
Alain Resnais gesamte Karriere fußt auf der Macht von Erinnerungen. Ob „Hiroshima Mon Amour“ oder seine Holocaust-Dokumentation „Night and Fog“ – seine Werke beschäftigen sich immer mit der Wichtigkeit des Erinnerns und dem Schrecken des Vergessens. Später, in „Last Year at Marienbad“, bekam dies noch eine weitere Dimension: hier etablierte er Erinnerungen als eine eigene Welt, die durch die Zeit zu etwas von der Realität losgelöstem wurde. „Providence“, Resnais erster englischsprachiger Film, fühlt sich schließlich wie sein vollendetstes Werk über die destruktive, als auch wunderschöne Macht der Erinnerungen an. Hier vermischt er Traum und Erinnerung zu einem Mix, der die Gedankenwelt in einer so glaubwürdigen Weise darstellt, wie ich es nie für möglich gehalten hätte.
„Providence“ behandelt den sterbenden Autor Claude Langham. Nachts liegt er halbwach und betrunken im Bett. Er will ein letztes Buch schreiben, das seine familiäre Situation und seine Kinder darstellt. In traumartigen Passagen fängt der Film seinem Denkprozess und generell seine Gedankenwelt ein.
Mich hat der Film dabei an meine eigenen Träume im Halbschlaf erinnert. Wenn ich aufwache und wieder einschlafe kommt es öfters vor, dass ich mir meinen Träumen bewusst bin. Mein Bewusstsein versucht so die Traumwelt nach meinen Vorstellungen zu gestalten, aus irgendeinem Grund kämpft mein Unterbewusstsein aber dagegen an. Es will fast schon diese Gestaltung verhindern und bringt immer wieder Dinge in diese Welt ein, die mein Bewusstsein nicht dort haben will. Und dieses Gefühl fängt „Providence“ auf eine so umwerfende Weise ein, dass ich mich frage wie Resnais das geschafft hat.
Hier vermischen sich Claudes Vorstellung von seinen Kindern und was sie über ihn denken (oder vielmehr was Claude denkt, was sie über ihn denken) mit Erinnerungen seiner Frau, die er am liebsten verdrängen will. Während er versucht seinen neuen Roman zu gestalten fliessen unterbewusst immer wieder Aspekte ein, die ihn nicht loslassen.
Resnais arbeitet dabei auf raffinierte Weise mit Schnitten, bei denen Kulissen in Gesprächen wechseln oder Charaktere ausgetauscht werden. So versucht Claude seine Gedankenwelt zu kontrollieren, auf die gleiche Weise wie Resnais seinen Film kontrolliert.
„Providence“ wirkt einfach wie ein fast schon zu realistischer Einblick in die Psyche und Gedankenwelt eines sterbenden Mannes, dass es mich nicht wundern würde, wenn rauskäme, dass Resnais hochentwickelte Technologie verwendet hat, um wahrhaftig die Gedanken eines Anderen abzufilmen. Der Film ist so komplex, man lernt im Subtext so vieles über Claudes Sichtweise auf sich selbst und seine Kinder, dass „Providence“ Alain Resnais Magnum Opus sein muss. Nachdem er jahrzehntelang quasi die Macht und Funktionsweise der Gedanken studiert hat, beweist er hier eindrucksvoll, dass er vermutlich besser als fast jeder andere diese eigene Welt, in der Traum, Vorstellung, Erinnerung und Realität kollidieren, verstand. In Echtzeit bekommt man hier zu Gesicht, wie sich ein Verstand wieder und wieder neu ausrichtet und die eigene Welt umschreibt. Und was soll ich sagen? Dass Resnais es schafft dies tatsächlich so darzustellen, als ob man in eine andere Psyche eintauchen würde, macht „Providence“ zu einem der beeindruckendsten Kunstwerke, die je geschaffen wurden.
Punkte: 10/10