Evolution of a Filipino Family (2004) – 10 Stunden lang, aber keine Minute zu viel
Es ist sicher zu sagen, dass Lav Diaz „Evolution of a Filipino Family“ den Film als Medium an sein äußerstes Limit treibt. Mit einer Produktionshistorie von 11 Jahren, einer Filmdauer von 10 Jahren und einer Seherfahrung, die über 10 Stunden dauert, ist der Film in allen Belangen monumental. Er verfolgt das Leben einer philippinischen Familie über den Zeitraum von 16 Jahren, während anhaltendem politischem Tumult.
So erzählt er eine zutiefst persönliche Geschichte über familiäre Bande und deren Bedeutung im Angesicht des Wandels, die aber gleichzeitig noch so viel mehr im Gesamtkontext widerspiegelt. Diaz porträtiert mehr die fragmentierte Psyche des gesamten Landes, das seine Identität verloren hat. In seinem langsamen, fast dokumentarischen Porträt der titelgebenden Familie schneidet er immer wieder echte dokumentarische Aufnahmen, die die Zeit zwischen 1971 und 1987 noch realitätsnaher einfangen.
Generell werden lange, schier endlose Passagen des familiären Lebens immer wieder durch herausstechende Momente unterbrochen, die so noch bedeutungsvoller erscheinen. Gewaltspitzen wirken in ihrer Nuanciertheit noch intensiver, Radiosendungen (und später das Fernsehen), die die Einheimischen in ihrer Freizeit anhören, werden selbst für den Zuschauer zu einer nötigen Abwechslung. Die Kunst ist hier aber kein reines Werkzeug der Unterhaltung, Diaz blickt auch hinter die Kulissen des fiktiven Radiodramas, das aber in seiner Gestelltheit gleichzeitig immer einen Kern der Wahrheit illustriert, der direkt auf das Leben der Einheimischen übertragbar ist. Mit einem Interview eines Regisseurs wird später die Funktion dieser Medien, als Kapsel voller Wahrheit, noch deutlicher und so zeigt Diaz gleichzeitig den Sinn und Zweck seines eigenen Werkes auf.
Auch wenn die Kameraarbeit qualitativ nicht immer einwandfrei ist (was unter den gegebenen Umständen und ohne Finanzierung kein Kritikpunkt sein soll), findet „Evolution of a Filipino Family“ immer wieder schöne und poetische Bilder, in einigen Aufnahmen werden die Bewohner (wie auf dem Poster) beispielsweise zu orientierunglosen Schatten ihrer eigenen Landschaft.
Man kann natürlich die Frage stellen, ob es nötig ist den Film derartig lang zu gestalten, allerdings wird die Laufzeit alleinig durch zwei Aspekte gerechtfertigt. Zum einen wäre es nicht möglich, ein so umfangreiches Porträt einer derartig langen Zeitperiode zu schaffen, bei der das Leben einer Familie den Zustand des gesamten Landes repräsentiert. „Evolution of a Filipino Family“ mag unheimlich langsam erzählt sein, so taucht man aber wahrhaftig in die Umgebung und die Lebensweise der Figuren ein. So sehr, dass man für einen Augenblick vergessen kann, dass man bloß teilnahmsloser Beobachter des Geschehens ist. Hier wird dem Zuschauer selbst viel Spielraum in seiner Denkweise und seiner Immersion geboten, indem er eben nicht durch richtungsweisende Dialoge oder Schnitte beeinflusst wird. Zum anderen, vielleicht sogar noch wichtiger, bedeutet die monumentale Laufzeit eine Art Akt der Befreiung gegenüber der Regierung. Jede verstrichene Minute dient als Symbol der Rebellion gegenüber einem System, das keine Meinungs- und Kunstfreiheit zulässt, was die Länge des Werkes fast schon unabdingbar macht. Wäre „Evolution of a Filipino Family“ nicht länger als zwei Stunden, so würde er als Rebellion gegenüber dieser Einschränkung der Freiheit nur halb so viel bedeuten.
Ich kann nicht behaupten, dass ich jede Minute dieses besonderen Werkes genossen hätte, was mich aber an „Evolution of a Filipino Family“ immens beeindruckt ist wie sich der Film gleichzeitig deutlich kürzer angefühlt hat und man dennoch das Gefühl hat, wahrhaftig all diese Jahre mit den Figuren durchlebt zu haben. In einer Welt, in der die Vergangenheit wie Fußspuren am Strand in Vergessenheit gerät, kreiert „Evolution of a Filipino Family“ ein mahnendes Denkmal, das jegliche Gezeiten überstehen wird.
Punkte: 9/10