The Age of Innocence (1993) – Scorsese auf dem Höhepunkt seiner Karriere
Ich habe ein gewisses Faible für Dramen und Liebesgeschichten, die sich in der Adligenszene des 17. bis 19. Jahrhunderts abspielen. Zugegebenermaßen gibt es viele kitschige Verfilmungen dieser prunkvollen Zeitperiode, dennoch reichen bessere Werke weit über die Oberflächlichkeit hinaus, die diese Zeit erst so prunkvoll macht. Man kann durchaus die Frage stellen: Warum haben einige der größten Regisseure genau jenes Setting benutzt um Dekadenz zu behandeln? Warum ist diese Welt des Überfluss so oft Schauplatz von dem was vergeht oder dem was nie erst entstehen konnte? Ich persönlich glaube, dass dies vor allem einen Grund hat: dadurch, dass der Besitz so stark im Vordergrund steht, ist das essenziell, was die Figuren nicht besitzen können. All der Reichtum lenkt von den klassischen Problemen der modernen Welt ab und gräbt tiefer nach den Problemen, die tief in der menschlichen Existenz verankert sind: Vergänglichkeit, unerfüllte Liebe und Verlust. Am prägnantesten ist dies wohl an der famosen Ballsequenz aus Viscontis „The Leopard“ zu erkennen, dessen überwältigender Prunk in der Realisation des nahenden Endes übergeht. Martin Scorsese ist bekannterweise ein großer Fan von „The Leopard“ und so ist es nicht verwunderlich, dass er die prägnanten Stärken dieses Genres ähnlich gekonnt ausspielt wie Visconti, Kubrick oder Welles vor ihm.
„The Age of Innocence“ versteht die Adligenwelt von Beginn an als Welt der Täuschung und Unehrlichkeit. Eine Welt, deren Gefängnis aus Etiketten und selbst auferlegten Regeln besteht. Eine Welt, in der Höflichkeit über Ehrlichkeit steht und in der die Fassade der Täuschung schnell zum Spiegel der Selbsttäuschung werden kann. Eine Welt, in der Liebe aus all diesen Gründen keinen Platz hat. Es mag in dieser Gesellschaft des Adels in den USA keine arrangierten Ehen geben, die Wahl des Partners ist aber deswegen nicht frei.
Denn Hauptcharakter Newland heiratet nicht aus Liebe. Vielmehr heiratet er, weil seine Verlobte May Welland einer großen, mächtigen Familie angehört. Die Heirat ist hier so kein Bund zwischen zwei Menschen, sondern zwei Familien, deren Prestige dadurch gestärkt wird. Es tritt allerdings schon bald ein Problem in menschlicher Gestalt auf, zumindest könnte man Mays Cousine Ellen aus der Sicht ihrer Familien so beschreiben. Sie heiratete einen europäischen Grafen, kam aber zurück in die USA, da er mit vielen anderen Frauen verkehrte. Und es kommt wie es kommen muss: Newland und Ellen verlieben sich.
„The Age of Innocence“ ist aber alles andere als eine kitschige Liebesgeschichte. Der Film ist vor allem voll von unterdrücktem Schmerz und Gefühlen, denen nie Ausdruck verliehen werden kann, deren Widerhall aber durch Zeit und Raum zu vernehmen ist. Immer wieder wird die gesellschaftliche Fassade, die in dieser Welt noch präsenter ist, durch nuancierte Offenbarungen durchbrochen, was Scorseses Feingefühl für seine Figuren in Gänze offenlegt. Interessantester Charakter ist wohl Ellen selbst, denn sie verleiht der Handlung nicht nur ihren Konflikt, sondern auch ihre schärfsten Beobachtungen. Sie ist die Einzige, die offen spricht, die nicht in den Etiketten dieser Scheinwelt gefangen ist und das ist wohl auch der Grund, warum sich Newland in sie verliebt: sie ist die Freiheit, die er nie hatte und die Offenheit, die er begehrt.
Inszenatorisch ist „The Age of Innocence“ vielleicht Scorseses stärkster Film oder zumindest der Film, der mich inszenatorisch am meisten beeindruckt hat. Denn seine Inszenierung fügt sich symbiotisch in diese Welt ein, bis sie sie auf ähnliche Weise durchbricht wie Newlands und Ellens verbotene Liebe. Das fängt mit den wunderschönen Bildern an, die selbst oft Gemälden des Barock gleichen, am besten aber zu erkennen ist dies an zwei Szenen: im ersten Viertel des Films befinden wir uns auf einem Ball. Hier werden einige Figuren vorgestellt, die Geschichte fügt sich (noch) in diese Gesellschaft ein. Und so auch die Kamera, die während einem Walzer dem Takt wie einem Tanz folgt. Eine Schlüsselszene, in der diese oberflächliche Welt aufgebrochen wird, ist später ein Gespräch zwischen Newland und Ellen: folgt die Handlung zuvor den Ritualen und Etiketten der Gesellschaft lässt sich hier ein Wendepunkt feststellen. Scorsese schneidet während diesen (beispielsweise während der Tee getrunken wird) weg und fokussiert sich stattdessen auf die Gespräche, die diese Fassade direkt durchbrechen.
„The Age of Innocence“ gelingt letztendlich die Meisterleistung mehr als nur eine Zeitperiode in perfekter Illusion einzufangen. Er kritisiert immer wieder den Vorhang der Gesellschaft, der diese Liebe erst indirekt verbietet und endet schlussendlich auf einer ähnlichen reumütig monumentalen Note wie „The Leopard“, in der der Film gänzlich über seine vorige Thematik hinausreicht und etwas größeres erreicht. Wie in mehreren von Scorseses adaptieren Werken stört mich das Voice-Over teilweise etwas, der Gesamteindruck eines von seinen besten Werken bleibt aber definitiv bestehen.
Punkte: 9/10