Im Lauf der Zeit (1976) – der essenzielle Road-Movie
Wim Wenders „Im Lauf der Zeit“ beginnt und endet mit einem Bild, das zerrissen wird. Das ist keineswegs Zufall, diese kleine Geste verkörpert im Kern alles, für das dieses fabelhafte Werk steht: Veränderung. Nicht nur für die beiden Hauptcharaktere Bruno und Robert, die in ihrer gemeinsamen Freundschaft eine Art Neubeginn finden, sondern vor allem für das, was die beiden im wahrhaftigen als auch im übertragenen Sinne zusammenbringt: das Kino. Dass „Im Lauf der Zeit“ mit einem zerrissenen Bild beginnt wirkt nicht nur passend, weil Wim Wenders zuvor mit „Alice in den Städten“ einen Film über die Fotografie selbst geschaffen hat, sondern weil der Film genau das verkörpert: Wandel. Die Beständigkeit des Fotos wird im Film durch den Lauf der Zeit durchbrochen. Ein Film startet so nicht mit dem ersten Bild, sondern erst mit dem zweiten – denn erst dieses bringt die essenzielle Bewegung.
In welchem Medium wäre es daher passender eine Geschichte über Wandel oder eben den Lauf der Zeit zu erzählen als im Film? In Wenders Augen vermutlich keines. Und auch das Genre des Road-Movies wirkt dafür besonders passend, denn hier ist Bewegung essenziell. Hier gibt es ausschließlich einen Weg nach vorne, der aber immer auf das Kino selbst zurückführt.
Denn Bruno repariert Filmprojektoren und jegliche anderen Utensilien der kleinen Dorfkinos, die er auf seinem Weg abklappert. Seine Lebensphilosophie steht trotz seiner Rastlosigkeit entgegen des Wandels, entgegen der Ergebung vor dem titelgebenden Lauf der Zeit. Er lebt ein eher einseitiges Leben der Isolation, vor allem aber repariert er das Einzige, was Beständigkeit bringt, was eine Zeit einfangen kann, die längst vergangen ist: den Film. Entgegen dieser Lebensweise steht zumindest teilweise Robert. Er fährt mit seinem Auto in den ersten Minuten des Films ins Wasser. Er versucht seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, auch wenn er sich nicht vollends von ihr lösen kann. Deswegen ist es symbolisch passend, dass er mehr ein Mann des geschriebenen, als des gesprochenen Wortes ist. Er würde gerne eine neue Seite seines Lebens beginnen, kann aber all die vorherigen Seiten nicht ausradieren, die ihn bis heute nicht loslassen. Auch wenn beide Männer so von gänzlich unterschiedlicher Natur sind, finden sie in ihrer Freundschaft eine nötige Verbindung. Während Bruno einen notwendigen Wandel erfährt, bekommt Robert die Beständigkeit, die er in seiner Losgelöstheit braucht. Und einmal mehr muss ich diese Beziehung auf das Kino selbst beziehen, denn wo sonst kollidierem Wandel und Beständigkeit auf derartige Weise?
„Im Lauf der Zeit“ ist aber nicht nur ein Porträt einer innigen Freundschaft, die aus einem einzigen Moment entstand, sondern auch ein Film über Kommunikation. Körpersprache und minimale Gesten haben in Wim Wenders Filmen noch die Bedeutung, die sie im Stummfilm hatten, denn Dialog benutzt er nur um die Ideologie der Figuren auszuarbeiten. Die Kommunikation selbst geschieht vor allem durch Körpersprache, durch das Sehen, wie es im Kino sein sollte.
Auf ihrer gemeinsamen Reise durch jegliche Kinos, die beiden Freunden ein gewisses Maß an Halt suggeriert, wird aber immer wieder die Realisation präsent, dass sich alles verändern muss. Die Kinos selbst zeigen um fortbestehen zu können Sexfilme und anderweitigen Schund, der nicht mehr das verkörpert, für das das Kino einst stand. Obwohl Filme so ein gewisses Maß an Zeitlosigkeit verkörpern, ist das Kino selbst dennoch dem Wandel der Welt unterworfen, der Notwendigkeit sich zu verändern, genau wie es bei jedem Menschen der Fall ist.
„Im Lauf der Zeit“ blickt durch seine stilvollen schwarz-weiß Bilder, eingefangen vom legendären Kameramann Robby Müller, indirekt nostalgisch auf die vergangene Zeit, auf das alte klassische Kino und ist rückblickend auch selbst ein nostalgisches Porträt einer vergangenen Zeit. So ist der Film eine beständige Zeitkapsel, die aber gleichzeitig den Wandel selbst behandelt und ist so wohl eine der besten Liebeserklärungen an das Kino, die je geschaffen wurden. Denn wo sonst geht das „was“ so grazil Hand in Hand mit dem „wie“? Wo sonst sind Handlung und Thematik, Figuren und deren Entwicklung, nicht nur verbunden, sondern eins? Ohne Frage nur sehr selten – und noch seltener mit einem so mitreißenden Soundtrack. Die Welt muss sich verändern, damit das Kino das bleiben kann, was es schon immer war. Denn sonst gäbe es keine Geschichten mehr, die es Wert sind zu erzählen.
Punkte: 10/10