Fanny and Alexander (1984) – eines der beeindruckendsten Kunstwerke aller Zeiten
Es ist das Paradoxon des Films, dass die größte Stärke des Mediums es ist, das einzufangen, was man nicht sehen kann. Obwohl das Kino das Medium der Visualität ist, hat es das Potential etwas zu illustrieren, das über das bloße Sehen, ja sogar über das bloße Fühlen, hinausgehen kann. Ein Porträt kann hier gleichzeitig zu einem Spiegel und einem Fenster werden, gleichermaßen zu einem Blick in sich selbst und in den Verstand eines Anderen. Nur die besten Filme erreichen dies in Perfektion und Ingmar Bergmans „Fanny and Alexander“ ist definitiv einer von ihnen. Zum ersten Mal habe ich die 5 stündige Fernsehfassung gesehen, nachdem ich die 3 stündige Kinofassung bereits kannte. Und tatsächlich schafft es die Fernsehfassung den Film nochmal aufzuwerten, sowieso schon einen der thematisch reichsten Filme aller Zeiten noch tiefgründiger zu machen.
Was „Fanny and Alexander“ so wundervoll macht ist, dass er die Geschichte zu großen Teilen aus der Perspektive der Kinder Fanny und Alexander erzählt. Der Film folgt nicht nur oberflächlich ihrem Werdegang, sondern zeigt die Welt wahrhaftig durch ihre Augen. In dieser Welt gibt es Magie, gibt es Geister und gibt es generell vieles, was wir nicht verstehen, weil die Kamera selbst dem Blick eines Kindes gleicht. Nicht nur erreicht Bergman dadurch eine der resonantesten und gleichzeitig märchenhaftesten wie realitätsnächsten Filmerfahrungen aller Zeiten, sondern er wirft zudem noch viel existenziellere Fragen auf. Zum einen stellt er das Mysterium der Welt, die der Mensch nicht verstehen kann, auf eine Weise dar, die keineswegs fiktional erscheint. „Fanny and Alexander“ zeigt durch seine Erzählperspektive, dass wir die Welt nicht verstehen können und alle in einer eigens kreierten Welt der Imagination leben. Jeder Mensch trägt mindestens eine Maske, spielt mindestens eine Rolle und enthüllt nie das, was er wirklich ist, genauso wie die Welt selbst nie ihr wahres Selbst enthüllt. Das ist zudem nie bloße Behauptung, von jeder einzelnen Figur und auch von der Welt selbst bekommen wir unterschiedliche Masken zu sehen, die von der Situation und den umgebenen Menschen abhängen.
Noch mächtiger und überwältigender wird der Film aber in seiner Struktur, in seiner Geschichte, die einen aprupten Wandel erlebt. Die erste Hälfte des Films spielt im prunkvollen Heim der Familie Ekdahl, das in lebhaften Farben erstrahlt und mit wunderschöner Kameraarbeit eingefangen wird. Die Innenräume werden in ihrer Konstellation und in ihrem Aufbau immer wieder mit dem eines Theatersets gegenübergestellt, was zum einen die Profession von Emilie und Oscar (Fanny und Alexanders Eltern, die Schauspieler und Regisseure eines lokalen Theaters sind) spiegelt und zum anderen einen direkten Bezug zwischen Kunst und Realität einfängt. All das steht im starken Kontrast zur zweiten Hälfte, die vom kargen, farblosen Haus des Bischofs Edvard Vergerus vereinnahmt wird. Diesen heiratet Emilie nach dem Tod ihres Mannes, sie und ihre Kinder geraten aber schnell in Konflikt mit dem kaltherzigen Mann, der Edvard eigentlich ist.
Man kann so diesen Kulissenwechsel als offensichtliche Religionskritik abstempeln, in der der größte Sünder und der „schlechteste“ Mensch der Bischof selbst ist, zum anderen erfüllt diese Gegenüberstellung aber noch einen viel intelligenteren Zweck. Bergman etabliert nämlich beides, sowohl das Theater/die Kunst als auch die Religion als Werkzeuge die Welt zu verstehen bzw. von dem Fakt abzulenken, dass wir sie nicht verstehen können – nur dass dies eben auf unterschiedliche Weise geschieht. So gibt es weniger Lüge und Wahrheit als Masken, die an- oder ausgezogen werden können. Die Kunst ist keine Lüge, genauso wenig wie die Religion eine Lüge ist. Sie ist lediglich eine von vielen Wegen, um auf die Welt zu blicken. Für Bergman ist so der Blick eines Kindes wohl der Wahrhaftigste, denn Kinder besitzen noch die Empfänglichkeit für Wunder, für das Mystische, ohne auf das zu vertrauen, was sie vermeintlich wissen. Und das ist gleichzeitig das größte Wunder von „Fanny and Alexander“: denn irgendwie schafft es Bergman selbst als Kind auf die Welt zu blicken, ohne seine Weisheit zu verlieren.
Bergman erreicht dabei auf quasi jeglicher cinematischer Ebene Perfektion. Ob die wunderschönen Bilder, die das Leben in einer überwältigenden Pracht einfangen oder die Schauspielleistungen, die allesamt überragend sind (vor allem Ewa Frölings feinfühliges Porträt von Emilie und Jan Malmsjös derartig kaltes und böses Porträt des Bischofs Edvard, dass ich ihn mit jeder Faser meines Körpers verabscheue).
„Fanny and Alexander“ geht letztendlich über jegliche Thematik hinaus. Er schafft es so vieles zu sein: ein mystisches Porträt der Kindheit, eine Abhandlung über die Bedeutung von Kunst und Religion, eine Ansammlung von Philosophischen Fragen, denen durch die komplexe Handlung Ausdruck verliehen wird und eine ausführliche Charakterstudie einer gesamten Familie, ohne einen einzigen Charakter zu vernachlässigen (vor allem Carl Ekdahl und Gustav Adolf Ekdahl profitieren immens von der 5 stündigen Fassung). Es ist letztendlich einer von sehr wenigen (mehr oder weniger drei) Filmen, die irgendwie die Meisterleistung vollbringen ein Porträt von allem zu sein – zumindest fühlt sich die Seherfahrung so überwältigend an. Genau dadurch ist „Fanny and Alexander“ eine Ode an das Leben, die seinesgleichen sucht, die für den kurzen Moment, die sie andauert, das Leben selbst übertrifft. Denn so viele Perspektiven, so viele Gefühle und so viele Ideen bekommt man nur sehr selten zu Gesicht.
Punkte: 10/10