The Headless Woman (2008) – eine der essenziellen Charakterstudien des 21. Jahrhunderts
Veronica, eine mittelalte Frau, die wir zuvor kurz kennenlernen, fährt mit ihrem Auto auf der Landstraße. Für einen kleinen Moment wird sie von ihrem Handy abgelenkt. Sie versucht es auszuschalten, als sie plötzlich etwas oder jemand um fährt. Sie steht unter Schock, weiß nicht wie sie mit dieser Situation umgehen soll. Sie fährt weiter. Kurz danach erscheinen die Title-Cards: „The Headless Woman“. Ein Titel, der mit seiner Platzierung alleine schon andeutet, dass es dieser eine Moment war, diese eine Geste der Unachtsamkeit, die Veronica „kopflos“ gemacht hat.
Im Verlauf des Films sehen wir anschließend wie Veronica mit dieser Situation und der Ungewissheit, was ihr widerfahren ist, umgeht. Sie scheint ihr gesamtes Umfeld durch den Unfall vergessen zu haben oder zumindest reagiert sie auf alle ihre Freunde und Familienmitglieder mit derselben Unsicherheit und Teilnahmslosigkeit. Sie ist von der Paranoia geplagt, einen Menschen umgebracht zu haben, sicher kann sie sich aber nicht sein.
„The Headless Women“ ist in vielerlei Hinsicht die Verkörperung dessen, was das Kino in seiner Potenz vollbringen kann – denn wenige Filme haben einen Geisteszustand, verknüpft mit den Sozialen Gegebenheiten, die diesen bedingen, so hautnah eingefangen.
Eigentlich beginnt der Film erst nach dem Unfall, denn erst dann begegnen wir der Veronica, die uns den ganzen Film über begleiten soll. Schon früh vollbringt die Handlung in ihrer Struktur eine Meisterleistung, während der Zuschauer nämlich ins kalte Wasser von Veronicas Umfeld, ohne Erklärungen oder Kontext, geworfen wird, entdeckt sie besagtes Umfeld auf dieselbe Weise neu. Ob sie in ihrem Schock wahrhaftig zeitweise ihr Gedächtnis verloren hat ist zwar unklar, es spielt aber prinzipiell keine Rolle: so oder so ist sie nämlich nun eine andere Person. Direkt stellt Lucrecia Martel durch diese Diskonnektivität, die gleichermaßen für Veronica als auch den Zuschauer gilt, eine Art Beziehung zwischen den Augen des Betrachters/der Kamera und der Psyche des Subjekts her. Beide fühlen sich auf ähnliche Weise in diesem Wirrwarr aus bedeutungslosen Begenungen und Besuchen verloren, während die Gedanken immer noch um den adrenalingeladenen Unfall kreisen.
Es wohnt der Handlung generell durch die disorientierte Struktur und dem fehlenden Kontext ein gewisses Maß an Mystik inne, es ist aber diese Verlorenheit, die Veronicas Situation in Perfektion spiegelt. Dennoch: jeder Zuschauer wird aufgrund der Offenheit des Films etwas anderes aus dieser parasozialen Beziehung zu seiner Hauptfigur und den intelligenten Beobachtungen mitnehmen, was aber so oder so bleibt ist wie intelligent Martel Veronica im Kontext ihres Umfeldes dekonstruiert. Zu großen Teilen wird der Film von Maria Ornettos meisterhafter Performance getragen, die allein dadurch unendlich viel über Veronica offenbart, wie sie auf bestimmte Dinge reagiert oder nicht reagiert.
Es ist aber vor allem eine philosophische Frage, die „The Headless Women“ durch seine Handlung perfekt verkörpert: was sind wir ohne die Vergangenheit? Dieser Ausgangspunkt macht die vielen sozialen Kontakte Veronicas, denen wir während der Laufzeit flüchtig begegnen, so interessant. Denn durch den Unfall, der ihr Leben wie ein schwarzes Loch aufsaugt, ist sie eine völlig andere Person, die ihren Bezug zur Vergangenheit verliert. Es sind aber ihre engsten Menschen, ihr Ehemann, ihre Freunde, ihr Bruder, die sie genau dadurch eben nicht kennen. Sie sehen Veronica, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, reduziert auf das, was sie für sie verkörpert: eine alternde Ehefrau, eine Zahnärztin, eine Freundin. Sie verfehlen aber genau dadurch zu sehen, wer Veronica jetzt ist: eine gebrochene, angsterfüllte Person. Sie sehen sie aus dem Blickwinkel der Vergangenheit, runtergebrochen auf das, was sie einst war, ohne sie wahrhaftig zu sehen. Es ist die Diskrepanz des Lebens, dass wir uns selbst in der Gegenwart beurteilen, unsere Mitmenschen aber uns durch den fehlenden Einblick nur auf der Grundlage der Vergangenheit beurteilen können. In gewisser Weise kennt der Zuschauer Veronica somit besser als all ihre Angehörigen: er kennt ihre Vergangenheit nicht und kann sie somit schlicht als das Sehen, was sie gerade ist. Und das fängt die wunderschöne Kraft des Kinos indirekt sehr gekonnt ein – es ist vermutlich die wahrhaftigste der parasozialen Beziehungen, weil es die Möglichkeit besitzt eine mehr oder weniger intime Beziehung zu einer Person aufzubauen, ohne je die variable des Vorurteils in das eigene Bild miteinfliessen zu lassen.
„The Headless Women“ ist eine grandiose Charakterstudie, vor allem weil sie intelligent genug ist um zu verstehen, dass ein Mensch nur wahrhaftig in der Gegenwart beurteilt werden kann und dass dies quasi jede Beziehung immens erschwert und strapaziert. Der Film ist ein gleichzeitig emotional unterkühltes als auch persönliches Porträt von innerer Verlorenheit und der Passivität, die durch das auseinaderdriften von dem entsteht, was wir sind und was andere in uns glauben zu sehen. Man könnte über so vieles Sprechen – über die symbolische Bedeutung von Veronicas Haaren, die das Bild ihrer Mitmenschen und ihr Selbstbild widerspiegeln, über die minimalen Gesten, die Onetto auf brilliante Weise in ihre Performacnce einbaut oder über all die Details, die man in jeglichen Einstellungen vorfinden kann – es bleibt aber unabhängig davon ein äußerst Gedankenreicher Film, der etwas geschafft hat, was nur wenige Filme vermögen: in seiner immersiven Erfahrung eine perfekte Symbiose aus Zuschauer und Hauptfigur zu schaffen und beide Perspektiven zu vereinen.
Punkte: 10/10