India Song (1975) – etwas ganz besonderes
Desto mehr Filme man gesehen hat, desto rarer wird es, etwas gänzlich neues zu entdecken. Man weiß wie Geschichten strukturiert sind, man erkennt die Vorbilder, die so viele Größen des Kinos inspiriert haben. Manchmal aber entdeckt man dem zum Trotz dennoch etwas, das man so sicherlich noch nicht gesehen hat und „India Song“ ist eine dieser Ausnahmeerscheinungen.
Was den Film so revolutionistisch und neuartig erscheinen lässt ist wie er seine Geschichte erzählt – oder vielmehr wie er sie nicht erzählt – und letztendlich ist es genau das, worauf es im Kino ankommt. „India Song“ mag einer groben Handlung rund um die Frau des französischen Botschafters Anne-Marie Stretter in der indischen Stadt Kalkutta folgen, der Film baut aber keineswegs auf dieser auf. Vielmehr ist er strukturiert durch einzelne Bilder, die den Film auch in non-linearer Struktur vorantreiben würden. Der Titel „India Song“ erscheint daher nicht nur passend, weil er das titelgebende Musikstück sehr grazil einsetzt, sondern auch weil es wohl kein anderes Werk gibt, das einem visuellen Song oder einem visuellen Gedicht näher kommt. Gerade weil die Handlung so nebensächlich ist, gerade weil die einzelnen Bildkompositionen mehr sagen als es eine Story je könnte.
Durch Innenräume, die die Figuren in ihrer eigenen Ideologie einsperren und nie über die Grenzen ihrer Kolonialmachtstellung hinausblicken lassen, verleiht Regisseurin Maguerite Duras ihren Bildern poetischen Ausdruck. Mit einem Spiegel, der wie die Figuren das Leben schlicht imitiert. Mit dem Rauch von Kerzen und Zigaretten, der wie die Menschlichkeit der Charaktere in der Luft des eigenen, eingeschränkten Weltbildes verfliegt.
Auf magische Weise verlor ich mich in diesen Bildern, in diesen fast flüssigen Kamerafahrten, umgeben von Prunk, immer begleitet von flüchtigen Begegnungen, von Liebhabern Anne-Maries, ohne je unterhalten zu werden. Nicht ein Charakter spricht in „India Song“ – jedenfalls nicht, indem er seinen Mund bewegt. Alles wird durch Voice-Over der Charaktere selbst dargelegt, wodurch Maguerite Duras die Wort- von der Bildebene trennt, die Charaktere zu bloßen, leblosen Abbildern ihrer Umgebung werden lässt und ihr Selbst aus dieser Welt entzieht.
„India Song“ ist genau dadurch vor allem eins: ein Porträt von Langeweile, hervorgerufen durch die fehlende Konnektivität zur umgebenen Welt, die versucht wird durch die Annahme von verschiedenen Partnern und flüchtigen Bekantschaften zu unterdrücken. Dadurch hält der Film als zweierlei her: einerseits als Einblick in die kollektive Psyche der Kolonisatoren selbst, deren Zugehörigkeit und Kultur im neuen Land abhanden gerät, während sie nie eine neue Perspektive adaptieren und als Porträt von weiblicher Verlorenheit im Kontext einer männerdominierten Welt, bzw. der Abhängigkeit die diese hervorruft (vor allem damals, im Jahr 1975). Beides führt aber letztendlich zu derselben Aufschlüsselung, zu derselben Identitätslosigkeit, die den Film in seiner Trägheit so kraftvoll macht.
„India Song“ ist stellenweise langweilig, was aber, wie in Chantal Akermans Meisterwerk „Jeanne Dielmann“, mehr einem Stilmittel gleichkommt. Genau dadurch, dass der Film teilweise so langatmig ist, adaptiert der Zuschauer dieselbe Gefühlslage wie Anne-Marie, zählt die Minuten in einer Welt, der trotz ihrer oberflächlichen Schönheit nichts als Tristheit inne wohnt.
Kino ist Bewegung, „India Song“ beweist aber auf beeindruckende Weise, dass Stillstand auch ein Stilmittel sein kann. Er vereint die Bewegtheit seiner Bilder mit der Bewegungslosigkeit seiner Welt und seiner Figuren und gleicht genau durch diese Ambivalenz visueller Poesie. Seine träge und doch kraftvolle Ausdrucksweise offenbart sich genau dadurch, dass eine unaufhaltsame Kraft, in Form des Kinos, auf ein unbewegliches Objekt trifft – und auf derartige Weise hat wohl noch kein anderer Film seine Charaktere, genau dadurch auch äußerst tiefsinnig, ergründet. Jean-Luc Godard sagte einmal: „Die Fotografie, das ist die Wahrheit. Und der Film, das ist die Wahrheit 24-Mal pro Sekunde“ und zu wenigen Filmen passt dieses Zitat besser als zu „India Song“, eben weil er die Stetigkeit eines Bildes mit der Veränderung des Kinos vereint.
Punkte: 9/10